Einmal über den Grossen Aletschgletscher laufen, ein Traum, den ich schon seit meiner Kindheit habe. Die schiere Grösse, die vielen Gletscherspalten und Geschichten, die sich auf dem Gletscher ereignet haben, üben eine fast magische Anziehung auf mich aus. Unzählige Male habe ich mir von der Grossmutter die Sage vom Rollibock erzählen lassen. Dieser hat sein Unwesen auf dem Grossen Aletschgletscher gerieben und sich die Menschen geholt, die weder Natur noch Lebewesen im Gebiet des Gletschers geachtet haben.
Der Wecker klingelt, es ist 05.30 Uhr
Ein wenig verschlafen schlurfe ich in die Küche. Ein grosses Glas Zitronenwasser und einen Espresso später bin ich bereit für das Abenteuer, das mich in den nächsten zwei Tagen erwartet. Ein letztes Mal gehe ich gedanklich den Inhalt meines Rucksacks durch, es sollte alles, was ich brauche, drin sein. Schnell bin ich angezogen und bereit, das Haus zu verlassen. Ich schwinge mich auf Määx, mein Klapprad und fahre zum Bahnhof. Über mir ein fast wolkenloser Himmel und doch ist es frisch an diesem Montag, kaum 10 Grad und das im August.
Der Zug ist angenehm leer und ich hänge auf der kurzen Fahrt von Brig nach Spiez meinen Gedanken nach. - Hoffentlich bekomme ich von den Bergschuhen, die ich selten trage, keine Blasen an den Füssen! Was, wenn ich nicht fit genug bin, um die Tour zu machen? Wie wohl die anderen Frauen sind, die mitgehen? -
In Spiez steige ich um und treffe im Zug auf die fünf Frauen, die mich auf der Gletschertour begleiten. Julia Wunsch von der Swissmountaingirls Community hat das Event zusammen mit Outdoor Interlaken organisiert und sich im Vorfeld um alles gekümmert. Die Reise zum Jungfraujoch, dem Top of Europe, ist kurzweilig. Oben angekommen treffen wir Jürg, unseren Bergführer. Ein sympathischer Berner Oberländer, der sich im Gletschergebiet bestens auskennt und uns viel Wissenswertes zum Gletscher und den Bergen rundherum erzählt.
Unterhalb der Jungfrau beginnt der Aletschgletscher
Das Wetter auf dem Jungfraujoch ist, wie ich es in den Bergen gerne mag, kalt und wolkenverhangen. Ja, fast schon mystisch. Nur ab und an sieht man ein kleines bisschen blauen Himmel und für kurze Zeit wird die Strecke des Tages ersichtlich. “Je näher wir dem Konkordiaplatz kommen, desto schöner wird das Wetter”, sagt Jürg, unser Bergführer. Während wir unsere Klettergurte und Steigeisen anlegen, ziehen Nebelschwaden und Wolkenbänder an uns vorbei. Der Wind bläst uns ordentlich um die Ohren. Ich schmunzle in mich hinein. Denn in meiner Vorstellung sah ich mich im T-Shirt über den Aletschgletscher wandern. Stattdessen bin ich nun angezogen im Zwiebelprinzip und trage als oberste Schicht Gore-Tex Hose und Jacke.
Jürg gibt das Tempo vor und erklärt, dass wir darauf achten sollen, das Seil nicht durchhängen zu lassen. Ich fühle mich sicher und gewöhne mich schnell an den Rhythmus der Seilschaft. Wir nähern uns den ersten Spalten. Sie liegen verborgen unter einer 20 Zentimeter dicken Schneeschicht. Souverän umgeht Jürg die tückischen Spalten und gibt uns konkrete Anweisungen, wie wir über eine Spalte schreiten, sollte eine Umgehung nicht möglich sein. Die Gletscherspalten sind nicht allzu breit, sodass ich es gut schaffe, sie mit einem grossen Schritt zu überqueren.
Pünktlich zur ersten Rast klart der Himmel auf und wir sehen den Konkordiaplatz vor uns. Hoch über ihm unser Tagesziel: die Konkordiahütte. Sie liegt auf einem Felsvorsprung auf 2850 Metern über dem Meer. Ehe wir dort ankommen, gilt es eine der beiden Moränen zu überwinden, den Ausstieg aus dem Gletscher zu finden und 444 Treppenstufen hochzusteigen. Hungrig beisse ich in mein Sandwich und geniesse beim Kauen die atemberaubende Aussicht. Noch einen Schluck Tee aus der Thermosflasche und schon marschieren wir weiter. Die Daunenjacke konnte ich inzwischen im Rucksack verstauen. Die Sonne wärmt ordentlich trotz des Windes.
Die Krux mit den Steigeisen
ir erreichen die linke Gletschermoräne, krsch krsch krsch ertönt es unter meinen Füssen. Die Steigeisen geben auf Stein und Geröll ein eigenartiges, ganz eigenes Geräusch von sich. Irgendwann nervt mich das knirschende Geräusch und ich bin froh, als wir auf Fels stehen und ich die Steigeisen für heute ablegen kann. Wirklich bequem ist es nicht damit zu laufen.
Jetzt noch die Treppen und dann gibt es Kuchen. “Das kann ja nicht so schlimm sein”, sage ich zu meinen Begleiterinnen und werde kurze Zeit später eines besseren belehrt. Auch wenn ich fit bin, 444 Treppenstufen gehen selbst trainierten Menschen ordentlich in die Oberschenkel. Von der Pumpe mal ganz abgesehen. Oben angekommen konnte ich mich gar nicht sattsehen an der Aussicht. Vom Jungfraujoch über den Konkordiaplatz bis fast zum Ende ist der gesamte Aletschgletscher zu sehen. Auch wenn die Eisschicht täglich um rund 20 Zentimeter schmilzt, ist es ein Eisgigant.
„Eine Simulation zweier Forscher der ETH Zürich zeigt anhand von drei unterschiedlichen Klimaszenarien, wie sich der Gletscher bis 2100 verändern wird. Auch im besten Fall rechnen sie mit einer Abnahme des heutigen Gletschervolumens um 50 Prozent.”
Der Wind hat inzwischen wieder zugenommen und es ist eisig vor der Konkordiahütte. Ich wärme mich zusammen mit den anderen drinnen bei einer Tasse Milchkaffe und einem feinen Stück Apfelkuchen auf. Die SAC-Hütte ist eine derkomfortabelsten in der Schweiz. Es gibt Hausschuhe und Bettdecken, Toiletten in der Hütte und einen beheizten Aufenthaltsraum. Wir sitzen zusammen, lassen mit Blick auf die Karte die heutige Route revuepassieren und machen uns ein erstes Bild von der morgigen Strecke. Fünf bis sieben Stunden Marschzeit sind angesagt. Kurz bevor uns das Abendessen serviert wird, sagt Jürg: “Tagwache ist um 05.30 Uhr.” Ich schlucke leer, schaue auf die Uhr und überlege ins Bett zu gehen. Der Drang, mir den Sonnenuntergang mit dieser Kulisse anzuschauen, ist dann aber grösser. Ich schnappe mir meine Kamera und gehe auf die Terrasse der Hütte. Ein Glück, der Wind hat etwas nachgelassen und es ist nicht mehr ganz so eisig wie bei unserer Ankunft. Der Sonnenuntergang ist magisch und mich erfüllt ein gigantisches Gefühl von Glückseligkeit, dieses Schauspiel sehen zu dürfen.
Der Gletscher unter mir ist schon im Schatten. Nur die Spitzen des Aletschhorns, des Eggishorns und des Bettmergrads liegen noch in der Sonne. Golden heben sie sich vom blauen Himmel ab. Ich fühle mich unendlich frei und privilegiert. Julia von Swissmountaingirls fragt mich, ob ich mich ihr anschliessen will, um gegen 23 Uhr die Milchstrasse zu fotografieren. Ich lehnte ab, weil ich ins Bett wollte, um am nächsten Tag nicht allzu müde zu sein. Mit schlafen in höheren Lagen tue ich mich schwer. Ich habe mich die ganze Nacht hin und her gewälzt und nicht so recht in einen erholsamen Schlaf gefunden. Entsprechend müde war ich, als um 05.15 Uhr das Licht anging.
Unendliche Weiten im Gletscherparadies
Die Rucksäcke wurden gepackt, die Kleider angezogen, die Thermoskannen mit Marschtee gefüllt und die Bergschuhe und Klettergurte gebunden. Draussen war es windstill und beinahe angenehm bei 0 Grad. Der Abstieg zum Gletscher war mit kalten Muskeln eine kleine Herausforderung, die wir alle gemeistert haben. Krsch krsch krsch, das Geräusch der Steigeisen auf der Moräne schon wieder dachte ich und habe versucht, mich wie tags zuvor auf das meditative Geräusch einzulassen. Es hat funktioniert und ich staunte, wenn wir stehen blieben über die Stille, die mich umgibt.
Beim Gletscherfluss haben wir einen ersten Stopp eingelegt. Eindrücklich, mit welcher Wucht das Gletscherwasser durch einen kleinen Canyon fliesst und sich irgendwann seinen Weg in den Untergrund des Gletschers bahnt. Ich frage mich, was passiert, wenn dort jemand hineinfällt. “Dann bist du weg”, sagt Jürg, als könnte er unsere Gedanken lesen. Der Gletscherfluss zieht einen unweigerlich mit sich in die Tiefe. Wir marschieren vorbei an riesigen Gletscherspalten und nähern uns der zweiten Moräne. Wieder knirschen die Steigeisen, als wir Steine und Geröll überqueren, um auf der rechten Seite des Gletschers weiter in Richtung Märjela abzusteigen. Meine Konzentration leidet. Mehrfach stolpere ich über meine eigenen Füsse und ärgere mich, dass meine grossen Zehen vorne in den Bergschuhen anprallen. Die Strecke, die wir zurücklegen müssen, ist weit länger als am Tag zuvor. Vor allem darum, weil die Gletscherspalten im unteren Teil des Gletschers breiter sind und viele Gletscherbrücken nicht stabil genug sind, um drüber zu laufen. Unser Bergführer Jürg findet die für uns passenden Wege und wir laufen durch eine bizarre Eislandschaft, kreuzen auf unserm Weg andere Tourengänger und freuen uns über die vielen Informationen, die Jürg uns zum Aletschgletscher gibt.
Tourende am Märjelensee
Nach etwas mehr als vier Stunden Marschzeit erreichen wir die Ausstiegsstelle bei der Märjela. Ich schaue hinüber zu den Felsen und sehe meine Freundin Svenja, die mir fröhlich zu winkt. Auch sie geht heute auf eine Gletschertour. Ich springe vom Gletscher auf den ersten Felsen, wir umarmen uns und tauschen die Schuhe. Sie übernimmt die Bergschuhe, ich ihre Wanderschuhe. Ein Glück, denke ich bei mir, dass wir die gleiche Schuhgrösse haben. Es war eine Wohltat, aus den steifen Bergschuhen in die Wanderschuhe zu wechseln. Die restliche Strecke zur Fiescheralp sind wir auf Wanderwegen und Alpstrassen unterwegs, da ist es weitaus angenehmer, in den weichen Wanderschuhen zu laufen.
Beim Märjelensee legen wir einen kurzen Stopp ein und wieder staune ich, wie viel Jürg über den Gletscher weiss. Ich sehe es nicht als selbstverständlich an, dass ein Bergführer seine Gäste auf einer Tour mit zusätzlichen Informationen versorgt. Deshalb an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön und eine warme Empfehlung, mit Jürg einmal auf eine Tour zu gehen.
Tausend Dank für zwei unvergessliche Tage
Danke sagen möchte ich auch den Swissmountaingirls. Der Schweizer Community für Frauen, die die Berge liebe und gerne draussen in der Natur unterwegs sind. Durch sie bin ich überhaupt erst an die Gelegenheit gekommen, diese Gletschertour zu machen. Relativ spontan und ohne gross zu überlegen, habe ich vor ein paar Wochen an einem Instagram-Wettbewerb mitgemacht und tatsächlich gewonnen, den Swissmountaingirls in Zusammenarbeit mit Outdoor Interlaken verlost hat. Es war mir eine Freude mit euch Frauen zu wandern und ich hoffe, wir sehen uns bei der einen oder anderen Tour wieder!
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